Genomische Zuchtwertschätzung
Die genomische Zuchtwertschätzung kombiniert die bisherige Zuchtwertschätzung eines Tieres auf Basis der Leistungs- und Abstammungsinformationen mit Informationen aus dem Genom desselben Tieres. Dadurch können schon für Kälber ohne Nachkommenleistungen Zuchtwerte mit relativ hohen Sicherheiten berechnet werden.
Grundlagen der Zuchtwertschätzung
Grundsätzlich wird bei der Zuchtwertschätzung mit mathematisch-statistischen Verfahren aus phänotypischen Leistungen eines Tieres und / oder seiner Verwandten (Vorfahren, (Halb-)Geschwister oder Nachkommen) die genetische Veranlagung berechnet, Leistungsfähigkeit in bestimmten Merkmalen an seine Nachkommen weiterzugeben. Da der wahre Zuchtwert eines Tieres nie bekannt ist, sondern immer nur näherungsweise berechnet werden kann, spricht man von Zuchtwertschätzung. Die Qualität der Schätzung wird dadurch beeinflusst, wie häufig ein Tiere eine Leistung erbringt, wer die Information liefert und ob das Merkmal direkt oder über ein Hilfsmerkmal erfasst wird. Die Sicherheit ist ein Maß für die Qualität der Schätzung. Je näher an 100% die Sicherheit liegt, umso genauer ist die Schätzung. Die Sicherheit eines Zuchtwertes steigt z.B. mit einer zunehmenden Anzahl an geprüften Nachkommen eines Bullen oder mit wiederholten Laktationsleistungen einer Kuh. Eine genaue Beschreibung zur Zuchtwertschätzung bei der Rasse Fleckvieh findet sich bei der Zentralen Arbeitsgemeinschaft Rinderzucht (ZAR).
Genomische Zuchtwertschätzung
Voraussetzung für die genomische Zuchtwertschätzung ist die Genotypisierung der Tiere, für die Zuchtwerte geschätzt werden sollen. Die Genotypisierung kann, wie in FLECKfficient praktiziert, über Ohrstanzen erfolgen, aber auch über Haarproben, Schleimhautabstriche oder Sperma. Bei der Genotypisierung der Tiere werden die sogenannten SNP-Effekte bestimmt. Ein SNP, ein Single Nucleotid Polymorphism, ist eine Punktmutation innerhalb der DNA-Sequenz, die zu mehreren Milliarden über die ganze DNA verteilt sind. Davon können 54.001 (54 K) SNPs, die relativ gleichmäßig über das Rindergenom verteilt sind, recht preiswert in Laboren bestimmt werden (Genotypisierung). Für die Laboranalyse wird lediglich eine kleine Probe genetischen Materials benötigt. Der genomische Zuchtwert wird als Summe aller SNP-Marker-Effekte definiert.
Die SNP entsprechen nicht direkt den Genorten der verschiedenen Merkmale, sie dienen lediglich als Marker für diese. Was ist ein Marker? In dem Buch „Pflanzenzüchtung“ (UTB, 2011) beschreibt der Autor Heiko Becker eine Metapher für einen Marker: „Wenn man in Bayern eine Wanderung unternimmt und Lust auf ein kühles Bier bekommt, sollte man nach einem Kirchturm Ausschau halten. In Bayern liegt nämlich neben jeder Kirche ein Wirtshaus. Der weithin sichtbare Kirchturm ist der „Marker“, das in unmittelbarer Nähe liegende Wirtshaus ist das eigentliche Ziel.“
Neben dem Vorteil, dass die Sicherheiten der Merkmale erhöht werden, können die SNP-Informationen
für beliebige typisierte Tiere innerhalb der gleichen Population angewendet werden. Dabei ist das Alter, das Geschlecht, die Eigen-
oder Nachkommenleistungen des Tieres unerheblich. Jedoch müssen nach einer gewissen Zeit die Effekte neu geschätzt werden.
Voraussetzung für eine funktionierende genomische Zuchtwertschätzung ist die sogenannte Kalibrierungs- oder Lernstichprobe.
Bisher besteht die Lernstichprobe beim Fleckvieh aus Bullen, zukünftig werden auch weibliche Tiere in der Lernstichprobe sein (weibliche
Lernstichprobe). Die Bullen der Lernstichprobe sind alle nachkommengeprüft und verfügen über Zuchtwerte mit hohen
Sicherheiten. Sie eichen sozusagen das genomische System, indem ihre Leistungsinformationen (Phänotypen) mit den genomischen
Informationen (SNP-Effekten der Genoyptisierung) abgeglichen werden.
Die Effekte aller bei einem Tier identifizierten SNPs werden zu dem genomisch direkten Zuchtwert aufsummiert. Für den genomisch
optimierten Zuchtwert, der dann veröffentlicht wird, wird der genomisch direkte Zuchtwert mit dem konventionellen Zuchtwert
zusammengefasst (absätziges oder Two-Step-Verfahren). Derzeit wird an einem neuen Zuchtwertschätzverfahren gearbeitet, bei dem
alle vorhandenen Informationen innerhalb einer Rechenrunde verarbeitet werden (Single-Step-Verfahren).
In den Zuchtwertlisten wird durch ein „g“ vor dem Gesamtzuchtwert (gGZW) verdeutlicht, dass es sich bei allen Zuchtwerten des
entsprechenden Tieres um genomisch optimierte Zuchtwerte handelt. Erreicht ein Bulle eine Mindestsicherheit von 50% im Milchwert, so kann
dieser in der Besamung auch ohne vorherigen Prüfeinsatz eingesetzt werden. Diese Bullen werden als „genomische
Jungvererber“ bezeichnet. Derzeit erfolgen monatliche Zuchtwertschätzungen, um möglichst aktuelle Zuchtwerte für
männliche und weibliche Kandidaten (= genotypisierte Tiere) zu schätzen. Zu den drei Hauptterminen der Zuchtwertschätzung
(April, August, Dezember) erfolgt die Rekalibrierung des genomischen Zuchtwertschätzsystems. Zu diesen Zeitpunkten werden
für alle genotypisierten Tiere unter Einbeziehung der konventionellen Zuchtwerte aktualisierte genomisch optimierte Zuchtwerte
berechnet.
Single-Step Verfahren der genomischen Zuchtwertschätzung
Beim Fleckvieh wurden mit der Zuchtwertschätzung August 2011 zum ersten Mal genomische Zuchtwerte veröffentlicht. Seitdem werden für alle Tiere, für die zum Zeitpunkt der Zuchtwertschätzung ein gültiger Genotyp vorliegt, genomisch optimierte Zuchtwerte für alle Merkmale veröffentlicht. Für alle nicht genotypisierten Tiere werden weiterhin konventionelle Zuchtwerte als offizielle Zuchtwerte veröffentlicht. Mit der Zuchtwertschätzung August 2019 werden für Fleckvieh erstmals Exterieur-Zuchtwerte, die mit dem Single-Step-Verfahren berechnet wurden, veröffentlicht.